Inhalt: Ein vergessenes, von Wäldern und Sümpfen umgebenes Dorf im westfälischen Nirgendwo. Ein verwittertes Fachwerkhaus am toten Ende der hinterletzten Straße. Eine egozentrische Außenseiterin mit Hang zum Größenwahn.
Im tiefsten Inneren sehnt sich Claudia nach Zuwendung, Freundschaft und guten Noten. Doch ihre Eltern, zwei arbeitsscheue Aussteiger, schämen sich für ihre Strebertochter. In der Schule wird sie gehänselt und mit dem Rohrstock drangsaliert. Da schleicht sich eine unheimliche Macht in ihr Leben und unterbreitet ihr ein verlockendes Angebot…
Leseprobe:
Es heißt, die Kindheit sei die schönste Zeit des Lebens. Dass ich nicht lache! Wer solchen Sermon von sich gibt, der hat wohl verdrängt, wie es damals wirklich war: Klein und allein unter Erwachsenen, unterdrückt und gepiesackt von Geistern, die niemand sonst sehen kann, verwirrt und machtlos, sich Gehör zu verschaffen oder die Dinge in irgendeiner Form zu beeinflussen. Mit Sicherheit ist er nicht bei uns auf dem Dorf groß geworden. Doch ich will nicht klagen. Ich will mich erinnern, die Wahrheit niederschreiben. Oder das, was ich für die Wahrheit halte. Auch ich habe vieles verdrängt und die düsteren Bilder der Vergangenheit mit helleren Farben übermalt, wurde getäuscht und indoktriniert, bis sich Wahn und Wirklichkeit kaum noch auseinanderhalten ließen. Was mich vor das Problem stellt: Wie erzählt man seine Lebensgeschichte, wenn man den eigenen Erinnerungen nicht trauen kann?
Wenn ich mich stark konzentriere, sehe ich die dunkle Gewitternacht, in der das Elend seinen Anfang nahm. Eine alte Kräuterhexe, die sich zufällig in die Gegend verirrt hatte, soll die Schmerzensschreie meiner Mutter gehört und mich auf die Welt geholt haben – so die Version meiner Eltern, die weiter erklärten, dass die Geburt sie völlig überraschend und unvorbereitet getroffen habe. Ich war nicht das, was man ein Wunschkind nennt. Aber weil ich sie mit meiner kratzbürstigen Art amüsierte und unsere schäbige Absteige genug Platz für drei bot, benannten sie mich nach der Kräuterhexe, Claudia, und nahmen mich in ihre kleine Wohngemeinschaft auf.
Die Erinnerungsfetzen, die in manchen Nächten kurz vor dem Einschlafen im Durcheinander meiner Gedanken aufblitzen, stimmen mit diesem offiziellen Text meiner ersten Stunden auf Erden jedoch nicht ganz überein: Sie handeln von süßen Wiegenliedern, blauen Kornblumen und dem betörenden Duft nach frisch gebackenem Korinthenstuten. Schmetterlinge tanzen über meiner Nase. Ich lache – vielleicht zum letzten Mal für viele Jahre. Dann plötzlich Schreie, Scherben und stampfende Schritte. Ich werde aufgegriffen, fliege, verliere das Bewusstsein. Und als ich die Augen wieder aufschlage, starrt mich ein fremder Mann an. Mein Vater! Es duftet jetzt nicht mehr nach Stuten, stattdessen verpestet sein saurer Atem die Luft. Das rote, aufgedunsene Gesicht mit den stacheligen, blonden Bartstoppeln jagt mir Angst ein und ich beginne mit der herzzerreißenden Inbrunst eines unglücklichen Frühchens zu schreien, weil ich ahne, dass dies nicht der Ort ist, an den ich gehöre und dass man mich hier nicht besonders gut leiden kann.
Wenn ich ein wenig vorspule, erscheinen ähnlich widersprüchliche Bilder vor meinem inneren Auge. Nehmen wir mich zu Vorschulzeiten: eine kleine Rotznase mit rostroten Strubbelhaaren und aufmüpfigem Blick, die Äpfel aus den umliegenden Gärten mopst, um sich in ihrem Versteck im Gebüsch bis zum Erbrechen vollzustopfen und mit einzelnen missratenen Exemplaren auf unliebsame Altersgenossen zu zielen. Eine tolldreiste Unruhestifterin, deren vorlautes Gebaren die gesamte Nachbarschaft in Angst und Schrecken versetzt. An einem besonders kreativen Tag scheine ich hinter der Kapelle Feuer gelegt und die Reifen des Leichenwagens mit dem Schnitzmesser bearbeitet zu haben.
Meine Eltern amüsierten sich noch Jahre später köstlich über diese Streiche und auch ich glaube, mich an die eine oder andere Szene zu erinnern, obwohl mir meine sinnlose Gewalt gegenüber fremdem Eigentum inzwischen peinlich ist. Gegen kleinere, unbemerkte Diebstähle oder Racheaktionen gibt es meiner Meinung nach nichts einzuwenden, aber blinde Zerstörungswut liegt eigentlich weit unter meinem Niveau. Was die Frage aufwirft, ob die wirren Schnipsel in meinem Kopf tatsächlich der Realität entsprechen. Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker beschleicht mich der Verdacht, dass ich das Opfer einer perfiden Gehirnwäsche geworden sein könnte! Wäre es nicht immerhin möglich, dass mir all die Torheiten, die ich als Knirps angeblich begangen haben soll, nachträglich eingeflüstert wurden? Dass mein formbarer Verstand die angeberischen Darstellungen meiner Eltern, ohne sie zu hinterfragen, in eigene, lebendige Erinnerungen verwandelt hat? Dass ich ein schlaues Mädchen bin, das sich selbst für eine tölpelhafte Apfeldiebin hält, weil man es ihm lange genug eingeredet hat? Was sagt das über die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung aus? Und welches Licht wirft es auf meine Eltern?
Was ich euch nun schildern möchte, ist nichts für zarte Gemüter und dazu so unfassbar, dass ihr es für die krankhafte Ausgeburt eines kindlichen Fiebertraums halten mögt – ich will es euch nicht verübeln. Bisweilen überfallen mich selbst Zweifel, ob ich es wirklich erlebt habe. Um dem Kern des Ganzen auf die Schliche zu kommen und Gedächtnislücken zu schließen, werde ich auch jene Geschehnisse rekonstruieren, die sich – von mir selbst und den meisten anderen Menschen zum damaligen Zeitpunkt mehr oder weniger unbemerkt – an benachbarten Schauplätzen zugetragen haben könnten. Vielleicht gelingt es mir so, die Wahrheit im Laufe der Geschichte zu ergründen.
Genau genommen handelt es sich um ein Dreigestirn aus Geschichten, die – eine unglaublicher als die nächste – mir noch heute, Jahrzehnte später, einen Schauer über den Rücken jagen. Der Beginn liegt weit zurück, halb versunken in den Nebeln der Vergangenheit, doch glaube ich, mich zu erinnern, als wenn es gestern gewesen wäre.