Das Buch entstand während eines Besuches im Winterlager des leavinghomefunktion Projektes. Das ist eine Künstlergruppe aus Halle, die innerhalb von zwei Jahren mit alten Ural Motorrädern auf dem Landweg (nördliche Halbkugel) nach New York fährt. Ich schreibe regelmäßige Berichte auf meinem Blog, für die Hörer- und Lesercommunity von MDR Figaro und die Mitteldeutschen Zeitung.

Die Eso-Tante

In der Diskussion einiger Passagiere mit dem Flugpersonal fällt mir eine Frau mit Brille, rotem Schal (sehr markant) und Lockenkopf auf. Groß ist sie und leicht korpulent. Ich beobachte sie eine Weile und stelle fest, dass sie deutsch und türkisch spricht. Und das ist in Anbetracht der akustischen Qualität der Durchsagen von wesentlichem Vorteil, denn wie du weißt, spreche ich ja nur bedingt englisch, nüchtern fast gar nicht und wenn alles eher eine breiige Sprachmasse ist, die da aus den Lautsprechern kleckert, dann hab ich verloren. Türkisch verstehe ich sowieso nicht und also bin ich tatsächlich abhängig von der Bewegung der scheinbar verstehenden Menge und denen, die mich aufklären können.

Nach der zweiten Ankündigung, die klar macht, dass der Abflug um eine weitere Stunde verschoben ist, spricht sie mit dem Personal und verlässt den Boardingbereich. Ich folge ihr und spreche sie an, frage, was das Problem ist. Eine Hürde für mich, denn mit fremden Menschen in Kontakt zu treten ist so gar nicht meins. Aber die Neugier in Summe mit der Ungewissheit ist gravierender und so springe ich über meinen Schatten. Sie weiß es nicht. Die alte, türkische Frau mit Kopftuch neben ihr, die fragen lässt, ob ich ein Künstler sei, weiß es nicht und das Personal selbst weiß es nach Aussage der Beiden auch nicht. Auf jeden Fall ist weiter Warten angesagt.

Wie sie drauf käme, dass ich ein Künstler sei, frage ich die türkisch sprechende Deutsche, die wiederum meine Frage übersetzt und zur Antwort gibt, dass man mir das ansehe. Ich sage, dass ich Autor bin, demnach also so etwas ähnliches wie ein Künstler und beide Frauen freuen sich ob meiner Antwort. „Sehen sie,“  sagt die Deutsche „meine Freundin hier hat die Gabe des Blickes. Ich habe sie vor einer Stunde hier kennen gelernt und sie ist eine ganz liebe, eine Frau mit einer weichen Aura. Sie kann Menschen sehen!“

What??? Wo bin ich denn hier hingeraten?

Ich bedanke mich für die Auskunft, verschwinde auf die Raucherterasse und beschließe, mich von nun an so unauffällig es geht an diese Esotante zu hängen. Aber eben möglichst so ungesehen, wie nur irgend möglich, denn schon nach wenigen Sekunden weiß ich, dass sie sich sehr gern selbst reden hört und dabei binnen weniger Minuten einen Blödsinn labert, wie alle Moderatorinnen von Astro- TV an einem Tag zusammen.

Zurück vom Rauchen nehme ich eine Reihe hinter ihr, in ihrem Rücken Platz, hole Kladde und Stift aus dem Rucksack und schreibe diese Zeilen, als sie plötzlich neben mir steht und fragt: „Für den Schriftsteller eine Gebäckstange?“ während sie mir ihr Angebot in Form mehrerer dieser Gebäckstangen unter die Nase hält, dass ich es gar nicht ignorieren kann.
Hat sie den Hunger gehört? Oder war das eine himmlische Eingebung? Hat es ihr womöglich ein Engel geflüstert? Auf jeden Fall kommt sie gelegen, und selbst, wenn ich sie ignorieren könnte, halte ich es nicht aus, das Angebot auszuschlagen. Ich fingere zwei Gebäckstangen aus der durchsichtigen Tüte und bedanke mich freundlich.

Nicht viel später, da sie ja nun auf mysteriöse Weise wusste, wo ich sitze, dreht sie sich um und hält mir die Tüte mit dem Essen grinsend entgegen. „Wollen sie noch eine? Kommen sie, setzten sie sich doch mit zu uns. Wir sind doch sowas wie eine Leidensgenossenschaft. Wie eine Familie. Aber wir wollen uns mal nicht aufregen, dass sich hier alles so verzögert, nicht wahr, es geht ja ums Ankommen und nicht um das Wann, wenn unser Leben vielleicht auf dem Spiel steh, da verstehe ich schon die Verzögerung, wenn es scheinbar um unsere Sicherheit geht. Ich meine, man sieht ja, was da draußen wettermäßig los ist und da ist es mir egal, wie lange ich hier sitze, solange ich weiß, dass man uns nicht eher starten lässt, bis das Wetter sich bessert, es hat ja keinen Sinn auf Biegen und Brechen loszufliegen und dabei ein Risiko einzugehen, so viele Menschenleben aufs Spiel zu setzen, wissen sie, was ich meine…“ „EY! HOL MAL LUFT!“ denke ich… neige beschämt mein Haupt und sehe mich aus den Augenwinkeln um, ob uns irgendwer beobachtet oder gar zuhört. Hätt ich doch bloß nicht so einen Hunger, ich hätte einfach freundlich nein gesagt und das Ganze wäre erledigt gewesen. Aber nein, der dämliche Instinkt, den Hunger zu befriedigen, der Auslöser dafür war, das logische Denken für den Bruchteil einer Sekunde der Entscheidung auszusetzen, zu lähmen, zwingt mich nun, hier, neben der Dame zu sitzen, die ganz sicher kein böser Mensch ist, im Gegenteil. Sie ist lieb. Sie ist voll von Liebsein, voll von Toleranz und Respekt. Voll von Liebe selbst und das alles muss so in ihr köcheln, dass sie es mit der ganzen Welt teilen muss, weil sie sonst schlicht und einfach explodiert. Und das will hier, in Anbetracht ihrer fleischigen Masse, keiner. Denn dann würden wir nicht nur wegen des Schneesturms festsitzen, sondern auch, weil ein Großteil des Flughafens zerstört wäre.

*

Die Dame bietet mir also eine weitere Gebäckstange an, ich setze mich zu ihr auf die rückwärtsgewandte Sitzreihe, Lehne an Lehne quasi, sie stellt sich mir mit Namen vor, ich vergesse ihn gleich wieder und nenne den meinen im Glauben, sie vergisst ihn gleich wieder. Die korpulente alte Türkin mit dem freundlichen Gesicht sagt etwas in meine Richtung und lächelt. Meine neue unbekannte Bekannte übersetzt: „Sie wusste, sagt sie, dass du ein Künstler bist. Sie sagt auch, dass du aussiehst wie ein Schauspieler.“ Ich lache, sie lacht, da lacht auch die alte Türkin und ich antworte, dass noch werden könne, was nicht sei, denn Schauspieler bin ich natürlich nicht. „Ja, man soll ja nichts unversucht lassen!“ sagt meine neue deutsche Freundin und beginnt mit diesem Satz ein pseudoesoterisches Essay über Leben und seinen Sinn, über Taten im Sein und den Wille die Dinge zu ändern und zu beeinflussen, auch, wenn sie vorgegeben seien, dass ich schon nach einer Minute bereue, mich als den Unwissenden in Sachen Flug und Sprache offenbart zu haben. Sie einfach nur im Auge zu behalten und ihr zu folgen wäre eben doch besser gewesen, als mich trottelig vorstellig zu machen und mir somit diesen Schwall magischer Dämlichkeiten ins Ohr kleckern zu lassen.

Dann stellt sie mir auch noch den zur alten Türkin gehörenden Sohn vor. Optisch hätte ich ihn eher in die Ecke „Kinderschänder“ gesteckt, der noch zu Hause wohnt, Mamis Schoßhündchen ist und das Böse aber in ihm schlummert und ihn regelmäßig an wehrlosen Opfern zu heldenhafter Größe vor sich selbst wachsen lässt. Aber man soll Vorurteile und scheintypische Physiognomie ja bekanntlich nicht Rechtssprecher des ersten Eindrucks sein lassen. Er sei, so erzählt mir die plappernde deutsch türkische Esotante, OP Helfer in einem türkischen Krankenhaus und zeigt mir zum Beweis ein Bild von ihm und seinen Kollegen, auf seinem Handy, das er eben eigentlich ihr zeigen wollte. Aber sie reißt es ihm aus der Hand, der da nur verdutzt guckt und sich und ebenfalls zu mir umdreht, als kennen sich die Beiden schon ewig. „Er hat so eine wahnsinns positive Aura!“ schwärmt sie. Na von mir aus, denke ich und wünsche mir ein Zeichen von irgendwo oben, sollte es doch einen Gott geben.
Und plötzlich eine Durchsage unseren Flug betreffend (ich bleibe trotzdem weiterhin Atheist), der von 11.45 Uhr auf 12.45 Uhr und dann auf 13.45 Uhr verlegt wurde. Erneut Gate-Wechsel. Die Ochsenherde trottet, nun allmählich sauer, raus aus dem Gate, den langen Gang nach vorn, in das Gate in dem wir vor einer Stunde schon einmal saßen. Hier bleiben wir dann bis zur nächsten korrigierten Ansage. Nächstes Gate ganz am Ende des Ganges, auf der anderen Seite des Airports. Dort waren wir noch nicht. So lernt man einen Flughafen auch kennen.
Ich entferne mich ein wenig von der Esotante, aber nur soweit, dass ich sie nicht vollends aus dem Blickfeld verliere.  Sie hat meinen Namen nicht vergessen. Vier mal ruft sie ihn und also mich in den nächsten dreißig Minuten, blickt mich dabei lächelnd an und … winkt mir zu. Ich wiederhole das nochmal: sie ruft grinsend meinen Namen! Lächelt! Und winkt!
Was zur Hölle ist hier los? Fluche ich zu viel? Ist die Atheisten-Entscheidung vielleicht doch falsch? Oder habe ich es mit einer seltsamen Metamorphose einer Dreizehnjährigen zu tun, die im Körper einer vierzig Jahre älteren Frau steckt? Schön, dass sie auf mich aufpasst, dass sie scheinbar eine Aufgabe gefunden hat, eine kleine Herde sprach-unkundiger Schafe um sich zu scharen, binnen kürzester Zeit, die sie hüten kann, aber bitte: Namen rufen und winken?! Das war mir im Kindergarten schon peinlich!

Sozialkritisches

Vorhin im Burger King am Südkreuz habe ich mich seltsam gut gefühlt. Selbstbewusst und voll von einer erstaunlichen Energie, deren Gegenwart ich erst bemerkte, als ich dort saß, über das schlechte Gewissen nachdachte, in dieser Schinderhalle zu essen, sie auch noch zu erwähnen, hier, öffentlich, vor dir, ist eigentlich eine Farce aber ich saß da und dachte mir: scheiß drauf! Blöder Gedanke im Zusammenhang mit einer solchen „Einrichtung“ ich weiß, aber es war mir egal, ich hatte scheiß Hunger, hatte kaum etwas gegessen und war schon lange auf den Beinen. Und diese Dreckskette war die einzige Lösung.
Ich aß und beobachtete die Leute, die gehetzt durch den Bahnhof rannten, als wollten sie ihr Leben einholen. Und ich fühlte mich überlegen. Nach allem, was nun hinter mir lag, was ich erfahren und lernen durfte, fühlte ich mich mächtig überlegen. Denn es ist doch so, dass die Wenigsten von ihnen wirklich wissen, was das ist. IHR LEBEN…. Das ist doch nur Alltag, Arbeit, Geld und Status. Das völlige, das absolute Gegenteil dessen, was ich in den letzten fünfzehn Tagen erlebt habe. Und ich meine erLEBT. Ich glaube, Leben ist doch vor allem, bei sich zu sein. Ehrlich in sich und für sich. Nicht für einen Job, der die Hälfte des Tages auffrisst und den meisten dieser Gehetzten da draußen nicht einmal gefällt, geschweige denn Spaß macht. Deshalb sagen sie, das Leben sei kein Ponyhof. Scheiße doch!

Aber sie haben ihn mit ihrer blinden Hetzerei zubetoniert, haben die kindliche Idylle mit Pflaster und Verkehrszeichen, Ampeln und Fabrikkomplexen, unter ihrer scheinheiligen Moral des Reichtums als oberstes erstrebenswertes Ist zerstört und glauben inzwischen an die dumme Phrase, dass Arbeit keinen Spaß machen muss. Doch verflucht! Arbeit muss Spaß machen, damit sie nicht krank macht.

Ich bezweifle nicht, dass der Mensch sich hin und wieder zwingen muss, Dinge zu tun, die er im Moment gar nicht tun will, aber das ist eine Sache des Blickwinkels, des Wofür und des Wielange! Wenn ich nicht für den Rest des Tages frieren will, muss ich eben wider meiner Gewöhnung früh im Kalten aufstehen, Holz hacken und Feuer machen. Und ich muss mir das zu hackende Holz irgendwo besorgen. Und ich muss für meinen Lebenserhalt etwas machen. Aber eben nur für meinen! Für den einer Gemeinschaft eventuell, die ich mir jedoch selbst gewählt habe, aber nicht, um einzelne Menschen zu Profiteuren dessen zu machen, was ich eigentlich nur meinetwegen mache.

Und das ist, zumindest in etwa, das, was die Fünf (sechs) des leavinghomefunktion Projektes machen. Man könnte meinen, sich auf ein Motorrad zu setzen und einfach blauäugig , mit zwei Schippen Romantik im Gepäck loszufahren, sei kein Job, bedürfe keiner Anstrengung, keines Zwanges und/oder Kampfes. Man geht jedoch völlig fehl in dieser Betrachtung. Die letzten beiden Wochen waren Urlaub für uns alle, und doch wurde gearbeitet. Organisation, Steuererklärung, Interviews, die notwendigen Schraubereien an den Maschinen, das zusätzliche Bestreiten des Alltags mit bis zu acht Gästen auf engem Raum, die energetische Bewegung innerhalb des Quintetts, das so zusammengeschweißt durch die letzten Monate fuhr, ja, fast ein Jahr intensiver, harter Arbeit ging ins Land und dass durch diese Situation jeder für sich vor eine Herausforderung gestellt war, das Planen ins Morgen, Visa beantragen, geographische, meteorologische Eigenheiten der Gebiete studieren, die auf sie warten, Plan B und C organisieren, Drehbücher schreiben und Filme für gewisse Unterstützer machen, und bei allem Mensch, Individuum bleiben, zu gleichen Teilen Ich und Wir, ich meine, das ist Arbeit.

Vielleicht lehne ich mich zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass das Schaffen derer zuweilen mehr Kraft, Geduld, Ausdauer, völlig Hingabe und teilweise Aufgabe fordert, als der Job am Fließband, in der Fabrik, auf der Baustelle, im Büro etc. wo auch immer. Denn hier ist immer Arbeit. Den ganzen Tag. Hier ist kein Feierabend, kein Urlaub.
Ich sage nicht, dass die Arbeit, die du und ich machen von minderem Wert ist, keineswegs. Das aufzuwendende Kraft- und Energiepotential jedoch ist, nach dem, was ich beobachtete, höher. Und es fehlt die feste Struktur eines gegebenen Arbeitsrahmens.

Und deshalb meinen vielleicht einige, diese Fünf seien hoffnungslose Romantiker, wenige würden sie vielleicht sogar als „Asoziale“ bezeichnen, oder als Träumer, die noch irgendwann „den Ernst des Lebens“ erkennen werden. Ich aber sage: Den Ernst des Lebens begreifst du, wenn du zwei Wochen mit dem Quintett unterwegs bist! Denn dann begreifst du erst wirklich, was eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, den Ernst des Lebens zu begreifen, denn du musst dazu erst einmal wissen, was LEBEN überhaupt ist!

Es ist nicht das, was dir als solches weiß gemacht und vorgelebt wird! Es ist nicht das, von dem du meinst, es sei das Richtige im Tun, weil es es alle tun. Verstehe mich nicht falsch, ich will keinen Abenteurer aus dir machen. Ich will nicht implizieren, dass nun alle Menschen eine solche Reise machen sollten. Ich will gar nichts aus dir machen, aber ich will sagen, dass es verdammt nochmal wichtig ist, sich selbst in all seinem Denken und Tun in Frage zu stellen, das Leben nicht als Konstrukt zu begreifen, sondern als etwas EINZIGARTIGES. Und so viele Menschen lassen es verkommen und verschwenden es daran, alles andere als einzigartig, sondern massenkonform und „gesellschaftstauglich“ zu sein.

Ich schrieb es an anderer Stelle schon: Leben ist die Summe der Jahre, der Monate, der Tage, Minuten, Stunden, Sekunden in denen du lebendig bist. Das ist Lebenszeit. Und Lebenszeit ist das Einzige, was du wirklich besitzen kannst, was dir, und nur dir gehört, und so viele Menschen lassen sie sich weg nehmen.

Ich habe einiges gelernt in den letzten Tagen und du bist Zeuge dieses Prozesses. Ich habe einmal mehr begriffen, dass gesunde Selbstkritik ein so wichtiges Gut ist. Dass Einsicht in Ehrlichkeit zuerst vor sich selbst und erst dann im Umgang mit den (anderen)Menschen funktionieren kann. Denn wer sich selbst belügt und sei es aus Unerfahrenheit, der belügt auch seine Mitmenschen.

M-Kruppe-Lange-Naechte-In-Tiflis